Dieser Text markiert den Abschluss der Arbeit der Reflexionsgruppe. Die Reflexionsgruppe begleitete den transformativen Prozess um einen ehemals im Bündnis aktiven Menschen. Dieser wurde im November 2020 von einer von sexualisierter Gewalt betroffenen Person als gewaltausübend benannt. In diesem Text ist unsere Arbeit zusammengefasst und wir halten wichtige Erkenntnisse fest. Der Text ergänzt den Blogbeitrag vom 12. Januar 2023, in dem die Hintergründe und die Ausgangssituation des transformativen Prozesses genauer erläutert werden. Den aktuellen Text haben Mitgliedern der Reflexionsgruppe verfasst, ohne die gewaltausübende Person (GP). Der Text wurde der GP vorgelegt und ihr Einverständnis zur Veröffentlichung eingeholt.
Unsere bisherige Mailadresse reflexionsgruppe@riseup.net wird mit der Veröffentlichung dieses Textes eingestellt.
Zukünftig erreicht ihr uns hier: awareness@gemeinsam-gegen-die-tierindustrie.org.
1. Wie haben wir gearbeitet
In der Reflexionsgruppe waren, neben der GP, fünf Personen aktiv. Ungefähr die Hälfte der Gruppenmitglieder waren cis-Frauen, der Rest cis-Männer. Die GP selbst war auch ein cis-Mann. Einige von uns kannten die GP bereits vor dem Prozess, anderen war die GP komplett unbekannt.
Da wir in unterschiedlichen Städten wohnten, trafen wir uns im Wechsel online und persönlich. Die inhaltliche Arbeit war für die Gruppenmitglieder teilweise sehr emotional und potentiell triggernd. Deshalb entschieden wir uns dazu, nur während persönlicher Treffen inhaltlich zu arbeiten. Während der COVID-Pandemie waren persönliche Treffen phasenweise nicht möglich. So gab es immer wieder unfreiwillige Pausen und Verzögerungen in der inhaltlichen Arbeit.
In unserer Arbeit wurden wir durch KollUM (Kollektive Umgänge mit sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch) mittels Supervision unterstützt. Die Supervisionstreffen fanden online und ohne die GP statt.
Die Ziele unserer Arbeit wurden mit der GP gemeinsam erarbeitet und im Konsensfestgelegt. Auch sonstige Entscheidungen wurden von den Gruppenmitgliedern – inklusive der GP – gemeinsam getroffen.
2. Was haben wir erreicht?
Insgesamt haben wir sieben Ziele für unsere Arbeit vereinbart. In den Zielen ging es um folgende Themen:
- Arbeit mit den Schilderungen / Perspektiven der direkt Betroffenen.
- Arbeit mit allgemeinen Perspektiven von betroffenen Personen (z.B. aus Literatur, Podcasts, Berichten aus dem persönlichen Umfeld).
- Die Rolle der GP in seinen politischen Zusammenhängen und seinem persönlichen Umfeld.
- Die künftige Mitarbeit der GP im Bündnis GgdT.
Die Arbeit der Reflexionsgruppe wurde beendet, ohne das alle diese Ziele komplett bearbeitet wurden. Dies hat folgende Gründe:
- Die Grenzüberschreitungen wurden von den Betroffenen als sexualisierte Gewalt benannt. Über diese Benennung hinaus hatten wir keine Schilderungen / Perspektiven der direkt Betroffenen. Sollten sich die Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt melden, wird die Arbeit an diesen Zielen wieder aufgenommen.
- Die GP hat sich dazu entschieden, nicht ins Bündnis GgdT zurück zu kehren.
Selbsteinschätzung der GP zu dem, was sie gelernt hat:
Die GP gibt an, in der Reflexionsgruppe viel über sexualisierte Gewalt gelernt zu haben. Zum Beispiel welche Formen von sexualisierter Gewalt es gibt, welche schwerwiegenden Folgen sie haben kann und wie unterschiedlich Betroffene mit erlebter Gewalt umgehen. Außerdem hat sich die GP nach eigener Einschätzung mit dem eigenen übergriffigen Verhalten auseinandergesetzt. In Bezug auf die vorgeworfenen Situationen wurden mit der Reflexionsgruppe Strategien erarbeitet, wie in solchen Situationen zukünftig gehandelt werden kann, um übergriffiges Verhalten zu vermeiden.
3. Wie hat sich die Arbeit auf alle Beteiligte ausgewirkt?
Während der Bearbeitung der Ziele hat nicht nur die GP viel gelernt. Jede*r Einzelne von uns hat einen individuellen Lernprozess mit vielen Höhen und Tiefen durchlaufen. Im Laufe des Aufarbeitungsprozesses haben wir eigene Betroffenheiten von sexualisierter Gewalt sowie eigenes gewaltvolles Handeln mit der Gruppe geteilt. Diese Erfahrungen wurden gemeinsam besprochen, wodurch wir immer wieder neue Aspekte über uns gelernt haben. Auch der Umgang miteinander und entstehende Gruppendynamiken waren Thema. Es wurde uns immer klarer, wie komplex transformative Prozesse sind. Für einen erfolgreichen Prozess darf nicht statisch nach einem bestimmten Schema vorgegangen werden. Der Prozess muss dynamisch sein und immer wieder an die jweilige Situation angepasst werden.
Diese Erfahrungen sind zum Teil in den vom Bündnis erarbeiteten internen Leitfaden „Umgang mit sexualisierter Gewalt – Leitfaden zur gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme im Bündnis Gemeinsam gegen die Tierindustrie“ eingeflossen. Mehr zu den individuelle Erfahrungen der Gruppenmitglieder könnt ihr in den persönlichen Berichten unter diesem Text entnehmen.
4. Was können wir anderen Gruppen mitgeben?
An dieser Stelle wollen wir mit euch teilen, was wir aus unserer Arbeit gelernt haben. Zum einen Dinge, die wir als wichtig erachten für die Begleitung von GPs in ihrem transformativen Prozess. Aber auch Punkte, die wir beim nächsten Mal anders machen würden.
Grundlagen
Zu Beginn des Prozesses waren wir uns teilweise unsicher, welche Rolle die Reflexionsgruppe hat. Gehört es zu unseren Aufgaben Forderungen an die GP zu stellen? Oder geht es darum, die GP im Rahmen ihres freiwilligen Prozesses zu begleiten und kritisch zu unterstützen? Auch wenn diese Frage immer ein Spannungsfeld blieb, haben wir uns mehr in der Rolle der Begleitung gesehen. Grundlage war also die Freiwilligkeit aller Beteiligten sowie eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Gruppenzusammensetzung
Im Nachhinein haben wir uns Gedanken darüber gemacht, ob die Zusammensetzung unserer Reflexionsgruppe angemessen war. Hier spielen verschiedene Aspekte eine Rolle: Geschlecht, Biografie, räumliche Nähe der Gruppenmitglieder, freundschaftliche Nähe zur GP, persönliche Beziehungen untereinander, Erfahrung mit transformativer Arbeit sowie eigene Betroffenheit von sexualisierter Gewalt. Die Zusammensetzung sollte zumindest in Teilen bewusst gewählt und gesteuert werden.
Im Laufe des transformativen Prozesses haben sich freundschaftliche Beziehungen zur GP verändert. Es bildeten sich neue Freundschaften, aber es zerbrachen auch Freundschaften zwischen der GP und anderen Gruppenmitgliedern. Es ist wichtig sich dieser Möglichkeit bewusst zu sein, wenn man sich als Freund*in der GP auf die Arbeit in einer Reflexionsgruppe einlässt.
Herausforderungen
In der Arbeit ist es nicht möglich durchgehend Augenhöhe zwischen der GP und den Mitgliedern der Reflexionsgruppe herzustellen. Anlass des Zusammenkommens bleibt die Verletzung(en), die die GP anderen zugefügt hat. Dies schafft eine Hierarchie, die bestehen bleibt. Unserer Ansicht nach ist es sinnvoll, sich diese Hierarchie bewusst zu machen und sie in der Arbeit zu berücksichtigen.
Außerdem sollte mitgedacht werden, dass der Aufarbeitungsprozess für die GP mit größeren biographischen Brüchen verbunden sein kann.
Treffen ohne GP
Wir hatten in unserem transformativen Prozess zu wenige Treffen und Austauschräume ohne die GP. Im Nachhinein fiel uns auf, wie wichtig und sinnvoll dieser Austauschraum für uns gewesen wäre. Bei zukünftigen transformativen Prozessen würden wir auf jeden Fall persönliche Treffen ohne die GP einplanen.
Supervision
Wir würden allen Gruppen, die GPs begleiten, dazu raten, sich eine Supervision zu organisieren. Die Supervision durch KollUm war für unsere Arbeit zentral. Es war enorm wichtig regelmäßig Rückmeldung von Personen zu bekommen, die nicht selbst Teil des transformativen Prozesses sind und außerdem praktische Erfahrung mit solchen Prozessen haben.
Gemeinsames Commitment für die Ziele
Die gesetzten Ziele sollten in festgelegten Abständen hinsichtlich ihres Bearbeitungsstandes und des Commitments aller Beteiligten zu ihnen besprochen werden. Falls dies notwendig wird, braucht es die Bereitschaft zu Beginn getroffene Ziele anzupassen und zu verändern.
Dauer des transformativen Prozesses
Aufgrund mangelnder Erfahrung mit transformativer Arbeit war es für uns sehr schwer einen zeitlichen Rahmen für den Prozess festzulegen. Wir hatten weder einen Zeitplan für den Gesamtprozess, noch für das Erreichen von Zwischenzielen. Im Nachhinein sehen wir das – zumindest in Teilen – kritisch. Für zukünftige transformative Prozesse erscheint es uns sinnvoll den zeitlichen Rahmen von Anfang an besser abzustecken. Dabei sollte jedoch eine gewisse Flexibilität gewährleistet bleiben.
Mitarbeit der GP in der Community während des Prozesses
Wie oben beschrieben legte die GP ihre Aufgaben im Bündnis zu Beginn des transformativen Prozesses komplett nieder. Ursprüngliches Ziel des transformativen Prozesses war jedoch, dass die GP zukünftig wieder Teil der Community (hier des Bündnisses GgdT) sein kann. Im Nachhinein fragen wir uns, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, den möglichen Wiedereinstieg der GP in die Bündnismitarbeit früher anzugehen und zu bearbeiten. Das komplette Niederlegen der Bündnisaufgaben hatte für die GP weitreichende Folgen, die für uns vorab so nicht absehbar waren. Eventuell hat dies zu seiner Entscheidung beigetragen, nicht wieder ins Bündnis einsteigen zu wollen. Andererseits kann der durch die Arbeitsniederlegung entstehende Schutzraum für Betroffene von sexualisierter Gewalt vorübergehend notwendig sein. Die Beantwortung dieser Frage kann unserer Meinung nach nicht alleine bei der Reflexionsgruppe liegen. Zukünftig würden wir diese Diskussionen früher ins Bündnis tragen und gemeinsam Lösungen erarbeiten.
Zielbearbeitung und emotionale Verantwortungsübernahme
Im Laufe des Prozesses wurde für uns deutlich, dass eine erfolgreiche Zielbearbeitung nicht unbedingt mit emotionaler Verantwortungsübernahme einher geht. Die Frage, inwiefern die GP emotional Verantwortung übernimmt, ist schwer zu beantworten. Sie bleibt subjektiv und auf einem „Bauchgefühl“ beruhend. Für die Reflexionsgruppe ist es deshalb wichtig, dass nicht der Anspruch an sie gestellt wird, diese Frage zu beurteilen und zu beantworten.
Es ist wichtig im Kopf zu behalten, dass die emotionale Verantwortungsübernahme alleine im Aufgabenbereich der GP liegt. Die anderen Reflexionsgruppenmitglieder sind nicht dafür verantwortlich. Bei nicht oder nur teilweise übernommener Verantwortung muss letztlich die GP die Konsequenzen tragen.
Zielbearbeitung außerhalb der Reflexionsgruppe
Die Umsetzung von erarbeiteten Inhalten wurde auch durch gesellschaftliche Gegebenheiten, wie bspw. patriarchale Strukturen, beeinflusst und teilsweise behindert. Auch hierdurch war es mitunter schwer, die Verantwortungsübernahme der GP zu beurteilen. Ohne die GP von ihrer Verantwortungsübernahme zu entlassen, sehen wir es als Aufgabe aller, vor allem aber anderer cis männlicher Personen, die GP in ihrer Verantwortungsübernahme zu unterstützen statt sie zu behindern und darüber hinaus auch selbst an der gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme mitzuwirken.
Ende des Prozesses
Zum Ende des Prozesses hatten wir viele Fragen im Kopf: Wann ist die Transformation abgeschlossen? Ist sie überhaupt irgendwann abgeschlossen? Wann hat genug Transformation stattgefunden um den Prozess zu beenden? Hier hilft es, bei der Bearbeitung der vereinbarten Ziele zu bleiben und die Verantwortung für den transformativen Prozess bei der GP zu belassen. Teilweise kann es auch angemessen und sinnvoll sein bestimmte Dinge auszulagern (z.B. in eine begleitende Psychotherapie, eine Antipatriarchale Gruppe, …).
Kommunikation zwischen beteiligten Gruppen
Wünschenswert wäre aus unserer Sicht ein regelmäßiger und zuverlässiger Austausch zwischen allen beteiligten Gruppen. So zum Beispiel zwischen Reflexionsgruppe und Community (bei uns das Bündnis GgdT) sowie zwischen Reflexionsgruppe und Unterstützer*innengruppe der Betroffenen. Sofern es den betroffenen Personen möglich ist dies zu formulieren, ist eine genauere Schilderung der übergriffigen Situation(en) hilfreich für den transformativen Prozess. Wie unser Prozess zeigt ist eine grundlegende Auseinandersetzung aber auch ohne diese Schilderungen möglich.
Bericht eines Mitglieds der Reflexionsgruppe (cis-weiblich)
Für mich war die Begleitung einer gewaltausübenden Person (GP) im Rahmen eines transformativen Prozesses etwas Neues. Ich hatte mich vorab viel theoretisch mit dem Thema Community Accountability auseinander gesetzt. Auch wegen eigener Betroffenheiten. Aber ich hatte keinerlei praktische Erfahrung. Niemand von uns in der Reflexionsgruppe hatte praktische Erfahrung damit. Deshalb war ich gerade am Anfang sehr verunsichert. Ich hab eine große Verantwortung gegenüber den Betroffenen verspürt, die Arbeit gut zu machen. Gleichzeitig war ich ratlos, wie wir das schaffen können. Vor allem, weil wir keine Perspektive oder Wünsche von den direkt Betroffenen hatten. Wir haben uns dann gemeinsam mit der externen Supervision Kollum Wege erarbeitet, wie wir die Themen trotzdem gut bearbeiten können. Und ich habe angefangen zu verstehen, dass wir nicht perfekt sein müssen. Dass wir bei unserer Arbeit auch Fehler machen dürfen. Das hat mir etwas mehr Sicherheit gegeben und mich entlastet. Für mich war die Begleitung durch Kollum also extrem wichtig. Im Laufe des Prozesses kamen immer wieder Unsicherheiten auf. Manchmal ging es um unsere Rollen untereinander. Persönliche Themen und Emotionen die mit rein gespielt haben. Viel Verunsicherung, manchmal Ängste. Kollum hat uns geholfen das zu entwirren und den Fokus nicht zu verlieren. Aber auch die Frage, was betroffenenzentrierte Arbeit eigentlich heißt. Was ist die Aufgabe und Rolle unserer Gruppe? Was liegt in unserer Verantwortung? Was liegt in der Verantwortung der GP? Was ist die Grenze von dem, was wir leisten können? Bei solchen und ähnlichen Fragen hat mir der Austausch mit Kollum viel von meiner Verunsicherung genommen. Und sie haben uns immer wieder auf das hingewiesen, was wir und auch die GP schon geschafft haben. Diese Perspektive ist bei mir leicht untergegangen. Wenn ich tief in der Arbeit stecke, sehe ich manchmal nur noch die Probleme und die unerledigten Dinge. Es war für mich ein Lernprozess zu erkennen, dass die wirklich wichtigen Fortschritte eher subtil sind. Emotionale Erkenntnissen und Veränderung von Gefühlen. Ich habe mit der Zeit verstanden, dass diese schwer greifbaren Erfolge eigentlich wichtiger sind als die leicht vorzeigbaren Ergebnisse (z.B. wie viele Texte wir gelesen und besprochen haben). Insgesamt war es für mich auch schön zu merken, dass ich durch Auseinandersetzung mit diesen Themen in meiner eigenen Betroffenheit nicht getriggert werde. Zu merken, dass ich bei dieser Art von Arbeit meine eigenen Erfahrungen sogar als Ressource nutzen kann.
Zwischendrin gab es immer wieder Gefühle von Überforderung. Bei mir war es vor allem die Anzahl der Treffen die mich überfordert hat. Da kamen bei mir schwierige Gefühle hoch. Ich wurde regelmäßig daran erinnert, dass ich weniger belastbar bin als viele andere Menschen. Das ist ein persönliches Thema, das mich schon lange begleitet. Nicht nur in dieser Gruppe. Außerdem gab es Umstände, die unsere Arbeit erschwert haben. Wir wohnen über ganz Deutschland verstreut. Deshalb haben wir neben den persönlichen Treffen auch immer wieder online zusammen gearbeitet. Die technischem Probleme und Hindernisse waren frustrierend. Vor allem wenn deshalb nicht alle gut an den Treffen teilnehmen konnten. Und dann kam die Covid-Pandemie. Wegen der Pandemie mussten wir eine längere Pause bei den „Live-Treffen“ einlegen. Das hat sich angefühlt wie eine Zwangspause in unserer Arbeit. Wir hatten entschieden, dass wir über schwierige Themen nur bei persönlichen Treffen reden. Das betraf eigentlich die ganze inhaltliche Arbeit und Auseinandersetzung. Wir wollten sicher stellen, dass keine Person alleine vor ihrem Rechner sitzt, falls eigene Erlebnisse oder schwierige Gefühle hochkommen. Das war mir wichtig. Gleichzeitig wurde ich durch diese Zwangspause aber auch sehr ungeduldig. Und ich hab den Druck von außen gespürt. Es gab einige Bündnismitglieder, die sich gewünscht haben, dass wir mit der Arbeit schneller voran kommen. Diesen Wunsch konnte ich verstehen, da ich ja selbst ungeduldig war. Ich musste damit umgehen, diesen Widerspruch auszuhalten.
Auf persönlicher Ebene war die Zusammenarbeit in der Gruppe sehr gut. Es hat sich mit der Zeit eine große Nähe und Vertrautheit zwischen uns eingestellt. Auch wenn wir uns nicht immer einig waren, gab es eine offene Atmosphäre. Es fiel mir leicht, schwierige Dinge anzusprechen. Ich habe eine große Wertschätzung füreinander gespürt. Gerade auch für unsere Unterschiede. Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass wir über mehrere Jahre in einer stabilen Gruppenkonstellation zusammen gearbeitet haben. Auch wenn es zwischendrin zu Gefühlen von Frustration und Überforderung kam, sind wir alle dabei geblieben. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass wir es geschafft haben gut für einander da zu sein. Ich hab mich in der Gruppe immer sicher gefühlt. Und ich bin froh und dankbar für die Dinge, dich ich gelernt habe. Auch wenn der Anlass für unsere Arbeit so traurig ist.
Bericht eines Mitglieds der Reflexionsgruppe (cis-männlich)
Ich habe mich mit diesem Prozess erstmals in einer Reflexionsgruppe um eine gewaltausübende Person beteiligt. Zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens des ersten Vorwurfs hatte ich mich in Ansätzen mit Theorien zu sexualisierter Gewalt und Umgängen in politischen Zusammenhängen beschäftigt, hatte aber keine tiefergehenden Kenntnisse oder praktische Erfahrungen – ich hatte noch keinen Prozess näher beobachtet, geschweige denn selbst mit gestaltet.
Die Vorwürfe beschäftigten mich sehr, als ich davon erfuhr. Es machte mich traurig; aufgrund persönlicher Beziehungen beschäftigte mich die Frage, was genau vorgefallen war und wie es dazu kommen konnte; und ich sorgte mich darum, ob und wie wir als Bündnis einen Umgang damit finden würden, der unsere Strukturen nicht zerlegt.
Während des mehrjährigen Verlaufs wandelte sich sowohl die Reflexionsgruppenarbeit an sich als auch mein Verhältnis zu ihr. Zu Beginn hatte ich die Vorstellung – in dem Moment wohl zweckoptimisch, rückblickend eher naiv –, dass wir als Bündnis in absehbarer Zeit zu einem Umgang finden würden. Und dass ein schnelles Gelingen vor allem davon abhängt, den richtigen Prozess aufzusetzen und die nötigen Ressourcen zu mobilisieren. So gab ich anfangs viel Zeit und Kapazitäten in den Prozess. Ich nahm viel Input aus Gesprächen und Literatur auf und lernte viel über das Patriarchat, sexualisierte Gewalt und Strukturen im Umgang damit. Und ich hatte den Eindruck, dass wir das Wissen auch konkret in unserer Reflexionsgruppenarbeit dazu einsetzen könnten, um zu transformativer Gerechtigkeit zu gelangen.
Bald zeigten sich jedoch viele Unwägbarkeiten: es kamen zusätzliche Vorwürfe auf, der Kontakt zu Betroffenen kam nicht zustande bzw. die Kommunikation mit der Unterstützer*innen-Gruppe verlief schleppend, es kamen mehrere pandemiebedingte Lock-Downs. Und mit dem andauernden Prozess veränderten sich auch persönliche Situationen und damit auch Bereitschaften zur Mitarbeit.
Auch meine Einstellung zum Reflexionsprozess änderte sich: Mit der Zeit stellte sich bei mir eine gewisse Ernüchterung ein. Ich kam ins zweifeln: sind wir wirklich auf dem richtigen Weg? Oder haben wir uns verrannt?
In dieser Phase war die kontinuierliche externe Supervision enorm wichtig für mich: hier konnte ich Unsicherheiten in Bezug auf den Prozess offen ansprechen. Gleichzeitig vertieften sich unsere persönlichen Beziehungen innerhalb der Reflexionsgruppe. Ich glaube das beides zusammen war letztlich die Basis dafür, uns auch emotional gegenseitig den nötigen Halt zu geben und den Prozess in Gang zu halten.
Dass der Prozess letztlich dreieinhalb Jahre andauern würde, hätte ich mir zu Beginn nicht vorstellen können. Gemessen an meinen bzw. unseren initialen Ansprüchen im Sinne transformativer Gerechtigkeit, dass im Bündnis nach dem Prozess sich sowohl betroffene Personen sicher fühlen als auch die gewaltausübende Person (Verantwortung übernehmend) weiterhin beteiligt sein kann, ist der Prozess nicht ans Ziel gelangt. Ich halte es dennoch weiterhin für eine richtige Entscheidung, dass ich mich in die Reflexionsgruppe begeben habe und dabeigeblieben bin. Ich habe viel gelernt, mich persönlich weiterentwickelt und glaube auch, dass wir als Bewegung daran gewachsen sind.