Nach der Blockade der Fleischkonzerne in den Tarifverhandlungen ruft die Gewerkschaft NGG zu Streiks auf!
„Arbeitgeber, die Jahr für Jahr Millionen-Umsätze einfahren, bezeichnen 10,50 Euro pro Stunde als ihre Schmerzgrenze. Für diejenigen, die weiter mit solch einem Armutslohn klarkommen sollen, ist das der pure Hohn.“ Mehrere Wochen verhandelte die Gewerkschaft NGG (Nahrung-Genuss-Gaststätten) mit den Arbeitgeberverbänden der Fleischindustrie. Am Abend des 29.3. ist klar, die Verhandlungen scheitern an der Blockadehaltung der Fleischkonzerne. Die Quittung, so Freddy Adjan, stellvertretender Geschäftsführer der NGG in einer Presseaussendung, gäbe es in den nächsten Wochen: „Wir werden nun die Beschäftigten zu Streiks aufrufen.“
Blockadehaltung der Fleischkonzerne
Ausgelöst durch die Corona-Ausbrüche in den Schlachthöfen und Fleischfabriken entfachte sich im vergangenen Jahr eine Protestwelle gegen die unzumutbaren Arbeits- und Lebensbedingungen der überwiegend osteuropäischen Beschäftigten in der Fleischindustrie. Ende des Jahres verabschiedete der Bundestag das Arbeitsschutzkontrollgesetz. Werkverträge sollten in den Kernbereichen der Schlachtung, Fleischverarbeitung und Verpackung verboten werden. Die Fleischkonzerne mussten daraufhin mehrere Zehntausend Beschäftigte, die zuvor über Subunternehmen beschäftigt waren, direkt einstellen. Weitergehende Maßnahmen wie das Verbot von der Leiharbeit oder stärkere Kontrollen des Arbeitsschutzes scheiterten am Widerstand der Fleischlobby und der CDU/CSU-Fraktion.
Die Blockadehaltung der Verbände und Fleischkonzerne dürfte daher wenig überraschen. Gerade einmal 10,50 Euro Mindestlohn pro Stunde waren Tönnies, PHW-Wiesenhof, Vion & Co. bereit zu zahlen. Die Gewerkschaft NGG forderte 12,50 Euro Einstiegslohn, der sich nach der Einarbeitung auf 14,00 Euro erhöhen sollte. Zudem sollten über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag Mindestarbeitsbedingungen wie Arbeitszeit, Arbeitszeitkonten, Zuschläge und Urlaub für die rund 160.000 Beschäftigten in der Branche geregelt werden. Verbesserungen, die insbesondere den prekär beschäftigten, meist migrantischen Beschäftigten zu Gute kämen.
Die Bereitschaft der Beschäftigten, ihre Forderungen über Arbeitskämpfe durchzusetzen, ist hoch: Neben den Warnstreiks in den aktuellen Tarifauseinandersetzungen kam es zuletzt an drei Standorten des deutsch-niederländischen Schlachtkonzerns VION zu wilden Streiks. Die Arbeiter*innen wehrten sich mit Arbeitsniederlegungen erfolgreich gegen zu niedrige Lohnabrechnungen. Die Aufrufe zu Streiks sind daher alles andere als leere Drohungen: „Die Leute“, so Freddy Adjan (NGG), „waren schon vor der heutigen Tarifverhandlung extrem sauer – die Stimmung in den Betrieben wird sich jetzt noch weiter aufheizen.“
Solidarität mit den streikenden Arbeiter*innen in der Fleischindustrie
Unser Bündnis stellt sich in der aktuellen Auseinandersetzung klar hinter die Beschäftigten. Wir richten uns gegen die prekären und gering entlohnter Beschäftigungsverhältnisse in der Fleischindustrie und rufen dazu auf, die Arbeiter*innen in den Schlachthöfen und Fleischbetrieben aktiv zu unterstützen.
Eigentlich sollte ab Januar 2021 ein Gesetz in Kraft treten, welches Werkvertragsarbeit in Fleisch- und Zerlegebetrieben verbietet. Doch die CDU/CSU arbeitet bereits an einer Aufweichung des Gesetzes.
Während der Covid-19 Pandemie gab es immer wieder Infektionswellen unter den Arbeiterinnen der Fleischindustrie. Diese sind unter anderem auf die beengten Unterbringung und die schlechten Arbeitsbedingungen der Werkvertragsnehmer*innen in der Fleischindustrie zurückzuführen. Durch diese wiederkehrenden Infektionsgeschehen wurde die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft auf die Situation der Arbeiter*innen gelenkt.
Arbeitsminister Hubertus Heil brachte im Juli ein Gesetz auf den Weg, welches Werkverträge und Leiharbeit in der Fleischindustrie erschweren sollte. Im Oktober sollte es im Bundestag beschlossen werden, dies wurde jedoch vertagt. Die Fleischindustrie müsse laut CDU in Zeiten, in denen dir Produktion auf Hochtouren laufe, wie etwa der Grillsaison, flexibel bleiben. Und das gehe nur mit Werkverträgen und Leiharbeit.
Nachdem die erste Welle heftiger Corona-Ausbrüche in Schlacht- und Fleischbetrieben im Sommer abgeklungen war, haben sich in den letzen Tagen wieder hunderte Schlachthofarbeiter*innen, vor allem Werkvertragsbeschäftigte, mit dem Corona-Virus infiziert.
Beim Fleischverarbeiter Allfrisch in Emsdetten (Landkreis Steinfurt) mussten 300 Beschäftigte in Quarantäne, nachdem 77 Arbeiter*innen positiv auf das Corona-Virus getestet wurden. Am Standort werden täglich 20.000 Puten verarbeitet. Der Betrieb gehört zur Sprehe-Gruppe, die mit der Geflügelfleischproduktion einen Umsatz von 780 Mio. Euro erwirtschaftet. Der Konzern stand in den vergangenen Jahren mehrfach aufgrund der Ausbeutung von Arbeiter*innen und Tierquälerei in der Kritik. 2013 prellte ein Subunternehmer hunderte Werkvertragsbeschäftigte um ihren Lohn und strich mindestens 3,3 Mio. Euro ein. Der Konzern wollte nicht gewusst haben, „wie dieser Vertragspartner seine Leistung organisiert“ und sah sich in Emsdetten mit Protesten konfrontiert. 2015 berichtete der Spiegel über Verstöße gegen Tierschutzauflagen in sechs Mastanlagen der Sprehe-Gruppe, nachdem PETA Deutschland Recherchen in den Betrieben durchführte.
Beim Tönnies-Schlachthof Weidemark in Sögel (Landkreis Emsland) wurden Anfang Oktober 112 Corona-Fälle gemeldet. 2.000 Arbeiter*innen sind hier beschäftigt, ein Großteil Werkvertragsarbeiter*innen aus Rumänien. Tönnies investierte zuletzt 60 Mio. Euro in den Schlachthof, um die Exportkapazität des Konzerns zu erhöhen. Aus Sögel wird vor allem Fleisch nach China verkauft. Der Landkreis reagierte auf den Corona-Ausbruch mit einer Einschränkung des öffentlichen Lebens, so wurden Veranstaltungen und der Schulsport in Sögel untersagt. Nachdem die Produktion zunächst nur geringfügig eingeschränkt wurde, verfügte der Landrat eine Schließung des Schlachthofs für mindestens drei Wochen, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Tönnies geht mittlerweile gerichtlich gegen die Infektionsschutzmaßnahme vor und spricht von einem unverhältnismäßigem Vorgehen.
Ebenfalls von einem Corona-Ausbruch betroffen ist der Schlachtkonzern Vion. 63 positiv getestete Mitarbeiter*innen vermeldete der deutsch-niederländische Konzern am Standort Emstek (Landkreis Cloppenburg). Vion musste im April den Schlachthof Bad Bramstedt vorübergehend schließen und geriet aufgrund der Behandlung und Unterbringung der Werkvertragsarbeiter*innen in die Kritik. Auch in den Niederlanden wurden zwei Schlachthöfe vorübergehend geschlossen, unter anderem weil Vion gegen Corona-Schutzauflagen verstieß und Mitarbeiter*innen in überfüllten Kleinbussen in die Schlachtfabriken transportieren ließ.
Auch die kontinuierlichen Massentestungen der Beschäftigten, die von Landesregierungen und teils von den Unternehmen selbst verfügt wurden, konnten offenbar nicht verhindern, dass es zu den erneuten Massenausbrüchen kam. Einmal im Betrieb, breitet sich das Corona-Virus offenbar rasant aus. Neben den widrigen Arbeitsbedingungen und den beengten Wohnverhältnissen der Werktragsbeschäftigten sind es laut Medizinern auch die konstant kalten Temperaturen der Arbeitsstätten, die eine Ausbreitung begünstigten. Zudem erhöhten mehrere Schlachtbetriebe, darunter der Tönnies-Schlachthof in Sögel, die Produktion, um die Reduzierung der Kapazitäten aufgrund früherer Corona-Ausbrüche aufzufangen.
Unter diesen Bedingungen ist es nur eine Frage der Zeit, bis weitere Meldungen über Corona-Ausbrüche in Fleischbetrieben Schlagzeilen machen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) haben gemeinsam ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die Vereinbarkeit des Verbots von Werkverträgen und Leiharbeit mit dem Grundgesetz untersucht.
In dem nun vorliegenden Gutachten kam der Autor Prof. Dr. Wolfgang Däubler von der Universität Bremen zu dem Schluss, dass ein solches Verbot sehr wohl verfassungskonform umsetzbar ist. Insbesondere ist das Verbot geeignet, erforderlich sowie verhältnismäßig, um das mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz beabsichtigte Ziel eines verbesserten Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu erreichen.
Dazu sagt DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel: „Gesundheitsschutz von Beschäftigten hat ganz klar Vorrang vor unternehmerischer Freiheit. Für die Fleischbranche ist es jetzt an der Zeit, ihre Wagenburg zu verlassen, um mit den menschenunwürdigen Praktiken abzuschließen und im eigenen Hof aufzuräumen. Wer jahrelang Menschen unter so entsetzlichen Arbeits- und Unterkunftsbedingungen beschäftigt, muss am Ende akzeptieren, dass der Gesetzgeber eingreift, wenn nichts passiert„.
Derweil kündigte Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner an, die Zahl an Routinekontrollen in der Fleischindustrie senken zu wollen, um mehr Kapazitäten für sogenannte Problembetriebe zu haben – ein offensichtlicher Versuch, der Fleischindustrie entgegen zu kommen.
Nachdem die Bundesregierung angesichts der Corona-Ausbrüche unter Arbeiter*innen in der Fleischindustrie ein Arbeitsschutzprogramm angekündigt hatte, beschloss sie nun vergangene Woche einen Gesetzesentwurf unter dem Titel „Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz“ (kurz „Arbeitsschutzkontrollgesetz“).
Spannend sind nun die Äußerungen vonseiten der Lobbyverbände der Tierindustrie, die wiederum ihre Macht zur Geltung bringen wollen, damit das Gesetz möglichst zahnlos wird und sie weiterhin die Arbeiter*innen ausbeuten können. Nachfolgend einige Beispiele von Branchenvertretungen.
Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft
Der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) schreibt in einer Pressemitteilung am Tag der Bekanntgabe:
Wir sind erschüttert, mit welcher wirtschaftsfeindlichen Ideologie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil mit seinem Entwurf eines Arbeitsschutzkontrollgesetzes die in unserem Rechtsstaat geltenden ökonomischen und juristischen Grundlagen komplett über Bord geworfen hat. Das über die Werkverträge hinaus gehende Verbot der Arbeitnehmerüberlassung und der Unternehmenskooperation ist unverhältnismäßig, mit heißer Nadel gestrickt – und gefährdet Arbeitsplätze! Die Bundesregierung nimmt in nie dagewesener Art und Weise einer einzelnen Branche rechtsstaatlich zugesicherte, marktwirtschaftliche Grundprinzipien weg.“ Und: „Wir appellieren an die Vernunft und Sachlichkeit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, im weiteren Gesetzgebungsverfahren diese Fehler zu korrigieren!
Wie dieser Appell an die Bundestagsabgeordneten aussieht, davon berichtet der ZDG in einer vorhergehenden Pressemitteilung: Mit „Politischen Frühstücken“, die in Zeiten von Corona als Videokonferenz durchgeführt werden, führt das ZDG sogenannte Hintergrundgespräche mit Abgeordneten durch: „Gefrühstückt wurde aber natürlich trotzdem: Der ZDG hatte den rund 25 teilnehmenden Mitgliedern des Bundestags und wissenschaftlichen Mitarbeitern jeweils ein „Frühstücks-Carepaket“ mit Chicken Bagel und Frühstücksei in die Büros liefern lassen.“
Der ZDG vertritt nach eigenen Aussagen die Interessen der deutschen Geflügelwirtschaft, unter den rund 8.000 Mitgliedern ist auch die PHW-Gruppe.
Verband der Fleischwirtschaft
Der Verband der Fleischwirtschaft (VDF) beschwert sich über massive Eingriffe „in die gesellschaftsrechtlichen Strukturen der Unternehmen“ und meldet europa- und verfassungsrechtliche Bedenken an. Der Entwurf des Arbeitsschutzkontrollgesetzes sei lediglich ein „Werkvertragsverbotsgesetzt“ und habe „mit Arbeitsschutz absolut nichts zu tun“.
Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands
Die Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN) verweist darauf, „dass bei den neuen Regelungen nicht überzogen werden darf“. Man werde Arbeitsschutzmaßnahmen nicht verweigern, solange „die Kapazitäten für die Schlachtung und Zerlegung“ nicht darunter litten: „Sonst droht ein fataler Strukturbruch, nicht nur in der Fleischwirtschaft, sondern auch in der gesamten Veredlungswirtschaft.“
agrarheute
Der Chefredakteur des Branchenmagazins agrarheute Simon Michel-Berger schreibt: „Mit Arbeitsschutz in Corona-Zeiten hat das nicht viel zu tun, eher mit einer Treibjagd auf einen gefühlten Bösewicht.“ Er spricht von „schwarzen Schafen“, und dass für die Corona-Ausbrüche nicht die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter*innen ursächlich seien, sondern lediglich die Lüftungsanlagen, die sich, „das nötige Kleingeld vorausgesetzt, […] mit Virenfiltern nachrüsten“ ließen. Mit Blick auf die eben diese aus seiner Sicht eigentlich nötigen Nachrüstungen der Lüftungsanlagen schreibt er:
Aber das interessiert Arbeitsminister Hubertus Heil anscheinend gar nicht. Was den Minister dagegen interessieren dürfte, sind die Klagen, die gegen sein Gesetz seitens der Fleischindustrie zu erwarten sind.
Fazit
Die Reaktionen der Lobbyorganisationen zeigen deutlich, was die Tierindustrie von dem Vorstoß der Bundesregierung hält: nämlich überhaupt nichts, wie nicht anders zu erwarten war. Sie werden jetzt ihre geballte Lobby-Macht daran setzen, Abschwächungen in Bundestag und Bundesrat zu erwirken. Und dabei werden sie nicht nur auf „Politische Frühstücke“ angewiesen sein: wie wir in einem früheren Watchblog-Beitrag geschildert hatten, sind 85 Prozent der CDU/CSU-Abgeordneten direkt mit der Land- und Agrarwirtschaft in Verbindung zu bringen.
Die Gewerkschaftslinke Hamburg hat über die systematische Ausbeutung und Erniedrigung der meist osteuropäischen Werkvertragsarbeiter*innen, das Geschäftsmodell des Subunternehmertums und die wiederholten Corona-Ausbrüche in der Fleischindustrie einen mehr als spannenden Sammelband herausgegeben.
Das Buch versammelt Beiträge von Peter Kossen (Pfarrer, Verein Würde und Gerechtigkeit), von Mitarbeiter*innen von Arbeitsrechtsinitiativen und Gewerkschaften, von Aktiven aus lokal engagierten Bürger*inneninitiativen und Unterstützer*innenkreisen für die Beschäftigten und vielen weiteren.
Die Herausgeber*innen stellen unmissverständlich klar: „Wichtigstes Ziel unserer Publikation ist es, die aktuelle Offenlegung der Missstände zu nutzen, um endlich das Werksvertrags- und Subunternehmerunwesen zu beenden.“
Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg [Hg.]
Das Schweinesystem
Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums!
Verlag: Die Buchmacherei
ISBN: 978-3-9822036-0-7
Nicht nur Clemens Tönnies steht am Pranger, sondern auch das „System Tönnies“ – Bericht über die Pressekonferenz und Buchvorstellung am 18.06.2020 in Rheda-Wiedenbrück auf der Homepage der Gewerkschaftslinken Hamburg
Es ist nicht der erste Corona-Ausbruch bei Deutschlands größtem Fleischkonzern Tönnies. 400 Mitarbeiter*innen des Tönnies-Schlachthofs in Rheda-Wiedenbrück haben sich laut Angaben des Landkreises Gütersloh seit Anfang der Woche infiziert. In der vergangenen Woche waren es bereits 130 Infizierte.
Seit langem werden Tönnies und andere Schlachtkonzerne kritisiert, dass der Infektionsschutz der Arbeiter*innen kaum umgesetzt werden könne. Dies betrifft sowohl die Unterbringung prekär beschäftigter Werkvertrags- und Leiharbeiter*innen sowie deren Transport in oftmals überfüllten Bussen als auch die Arbeitsbedindungen in den Schlachthöhen und Fleischverarbeitungsfabriken. Akkordarbeit, hunderte Arbeiter*innen in den Zerlegehallen und kaum einzuhaltende Abstandsgebote begünstigen die Ausbreitung des Coronavirus unter den Beschäftigten. So auch im aktuellen Fall: Alle Mitarbeiter*innen haben sich im Betrieb angesteckt.
Tönnies machte in den vergangenen Wochen wiederholt klar, dass man nicht bereit sei, die Produktion auch nur zu drosseln. Die Gefahr von Infektionsketten in den Fabriken wurde mit Verweis auf eine vermeintliche Versorgungssicherheit der Bevölkerung hingenommen. Corona-Ausbrüche sollten durch konzerneigene Reihentestungen nur noch eingegrenzt werden.
Im Angesicht des erneuten Ausbruchs und neuer Kritik aus der Öffentlichkeit sieht sich Tönnies nun allerdings gezwungen, die Produktion am Standort in Rheda-Wiedenbrück herunterzufahren und weniger Arbeiter*innen in den Schichten einzusetzen. Der Landkreis Gütersloh gab sich zunächst mit diesen Ankündigungen zufrieden und nachdem hunderte neue Infektionen festgestellt wurden, wird der Standort voraussichtlich geschlossen. Schulen und Kitas müssen aufgrund des Ausbruchs ab Donnerstag auf unbestimmte Zeit schließen.
Mittlerweile haben sich weit mehr als 1.000 Beschäftigte von Schlachthöfen und Fleischverarbeitungsbetrieben mit dem Coronavirus infiziert. Es sind insbesondere osteuropäische Werkvertragsarbeiter*innen, die aufgrund beengter Verhältnisse in den Fabriken, beim Transport zu den Arbeitsstätten und in den Wohnunterkünften einer Erkrankung an COVID-19 ausgeliefert sind.
Dennoch setzt Tönnies alles daran, die Produktion auf Hochtouren zu halten. Offenbar hat Deutschlands größter Fleischkonzern aufgegeben, Corona-Ausbrüche im Betrieb zu verhindern und fährt eine Strategie, Infektionsketten lediglich zu reduzieren und einzugrenzen. Der Konzern hatte hierfür kürzlich ein eigenes Testzentrum eröffnet, um betriebseigene Coronavirus-Testungen vornehmen zu können. Über „risikoorientierte Reihentestungen“ sollten Mitarbeiter*innen, die in Verdacht stünden, Kontakt zu Corona-Infizierten zu haben, an freiwilligen Corona-Tests teilnehmen, um Ausbrüche frühzeitig zu erkennen.
Dass diese Strategie Corona-Ausbrüche nicht verhindern kann und Infektionen sich in Windeseile in der Belegschaft verbreiten, zeigen aktuelle Fallzahlen des Standortes in Rheda-Wiedenbrück. Nachdem zwei Mitarbeiter*innen über eine Kirchengemeinde Kontakt zu Corona-Infizierten hatten, wurden alle 120 Mitarbeiter*innen der Abteilung getestet. Das Ergebnis: Bereits 18 Mitarbeiter*innen waren zu dem Zeitpunkt an COVID-19 erkrankt. Insgesamt sind seit Beginn der Massentestungen in der Unternehmensgruppe Mitte Mai 43 Personen erkrankt.
Die Produktion auch nur zu drosseln, um Abstandsgebote einzuhalten, schlägt Unternehmenschef Clemens Tönnies aus, schließlich gehe es nicht nur um den Schutz der Mitarbeiter*innen sondern auch um die „Versorgungssicherheit mit Fleisch und Wurst“.
Die Kritik am fehlenden Gesundheits- und Infektionsschutz bei Tönnies hält derweil an: Anfang Mai sorgte ein Video für Diskussionen, das Werkvertragsbeschäftigte ohne Mundschutz dicht gedrängt in einer Kantine zeigt. Zudem beobachtete das Bündnis gegen die Tönnies-Erweiterung in Rheda-Wiedenbrück während einer Demo vor den Werkstoren am 19. Mai, dass nach wie vor Arbeiter*innen in überfüllten Bussen zu den Produktionsanlagen gefahren werden.
Werden die angekündigten Arbeitsschutzmaßnahmen des Bundesarbeitsministerium so umgesetzt wie angedacht, wäre es tatsächlich ein Schlag gegen das ausbeuterische Geschäftsmodell der Fleischindustrie. Insbesondere die geplante Abschaffung von Werkverträgen für größere Schlacht- und Fleischverarbeitungskonzerne dürfte die Industrie vor erhebliche Herausforderungen stellen. Ob die Maßnahmen tatsächlich so umgesetzt werden ist ungewiss, ebenso ob sie zu einer Verbesserung der Situation der prekär beschäftigten Arbeiter*innen und zu einem verbesserten Gesundheitsschutz der Beschäftigten in Anbetracht der Corona-Epidemie führen. Das Thema Ausbeutung der Arbeiter*innen in der Fleischindustrie hat sich noch lange nicht erledigt.
Die Fleischindustrie kündigt Widerstand an:
Es ist mit heftigen Widerstand von den Konzernen und den Branchenverbände der Industrie zu rechnen. Der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) sprach bereits im Vorfeld von einer „Diskriminierung“ und kündigte eine Verfassungsklage an. Der Verband der Fleischindustrie (VDF) zeigt sich ebenfalls empört, die Maßnahmen seien „vollkommen unangemessen“, eine „willkürliche Diskriminierung“ und es bleibe abzuwarten, „ob derartige Regelungen Bestand haben werden“.
Dass das Interesse der Industrie an Arbeitsschutzmaßnahmen mehr als gering ist, zeigen auch Ankündigungen, den Schlachtbetrieb notfalls ins Ausland zu verlagern, wo Arbeitsschutzstandards geringer seien. Entsprechend äußerten sich die ZDG, aber auch Clemens Tönnies, der in öffentlichen Stellungsnahmen bis zuletzt am System Werkvertrag festhielt. Tatsächlich halten Wirtschaftsminister oder die Gewerkschaft NGG derartige Schritte für unrealistisch, über derartige Verlautbarungen soll viel mehr Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt werden.
Der Marschrichtung der Verbände und der Konzerne ist klar: Verbesserungen des Arbeitsschutzes werden nicht hingenommen, es wird geklagt und versucht, Einfluss auf die konkrete Umsetzung der geplanten Maßnahmen zu nehmen, um diese abzuwenden oder zumindest abzuschwächen. Ob die Fleischindustrie Erfolg hat, hängt letztendlich auch davon ab, wie hoch der öffentliche Druck ist.
Eine Absichtserklärung ist noch kein Gesetz:
Tatsächlich sind die vom Bundesarbeitsminister Heil und dem Regierungskabinett vorgeschlagenen Maßnahmen weitreichender als erwartet. Es bleiben aber Absichtserklärungen. Ob die Maßnahmen tatsächlich eins zu eins umgesetzt werden, darf bezweifelt werden. Die Fleischindustrie versteht es, ihr wirtschaftliches Kapital in politische Macht zu münzen und über Verbände und Lobbyisten effektiv Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren zu nehmen.
In der Vergangenheit stand die Industrie nach Tierschutzskandalen des Öfteren unter heftiger Kritik. Die Bundesregierung und Ministerien versprachen Besserungen, bei tatsächlichen Initiativen wie dem Verbot der Kastenstände in der Schweinezucht oder dem Einsatz von Antibiotika in der Geflügelfleischindustrie wurden ursprüngliche Maßnahmen auf Druck der Industrie und des von Julia Klöckner geführten Landwirtschaftsministerium schnell wieder aufgeweicht. Ein weiterer Grund sich an dieser Stelle nicht vorschnell zurückzulehnen.
Gesetzliche Vorgaben wurden von der Fleischindustrie schon immer mit Füßen getreten:
Der Arbeitsschutz wurde in der Fleischindustrie schon immer unterlaufen. Vom Juli bis September 2019 wurden in 30 Großbetrieben in Nordrhein-Westfalen 8.752 Verstöße bei Kontrollen des Arbeitsschutzes festgestellt, allein 5.863 gegen die Arbeitszeit. 85 Prozent der Betriebe verstießen sogar gravierend gegen Auflagen, so das nordrhein-westfälische Arbeitsministerium. Nicht anders sieht es im Übrigen bei der Einhaltung von Tierschutzauflagen aus: Von 62 überprüften Schlachtbetrieben in Niedersachsen verstießen 58 gegen gesetzliche Vorgaben. Bei den Kontrollen von Ende 2018 bis Anfang 2020 fielen laut Landwirtschaftsministerium des Landes zudem 49 Schlachthöfe durch unzureichende Hygiene in den Produktionsstätten auf.
Der Fleischindustrie nutzt zudem rechtliche Graubereiche knallhart aus. Die Ausbeutung der Arbeiter*innen über Werkverträge und das systematische Unterlaufen des Mindestlohns ist hier das vielleicht prominenteste Beispiel. Aber auch im Bereich der Tierhaltung haben die Fleischkonzerne Geschäftsmodelle gefunden, um die Einhaltung von Tierschutzvorgaben zu umgehen und die damit verbundenen Kosten einzusparen. In der Geflügelfleischindustrie etwa haben Unternehmensgruppen wie PHW (Wiesenhof) oder Rothkötter die Zucht und die Mast von Hühnchen und Puten an sogenannte Vertragsmastbetriebe ausgelagert, um für die andauernden Tierschutzverstöße und elenden Haltungsbedingungen der Tiere nicht verantwortlich gemacht zu werden.
Von den Schlacht- und Fleischkonzernen zu erwarten, dass sie sich mit den neuen Arbeitsschutzmaßnahmen streng an Vorgaben halten, ist vor diesem Hintergrund schlichtweg illusorisch.
Der Schutz der Arbeiter*innen vor Corona-Ausbrüchen ist nicht geklärt:
„Zwölf-Stunden-Schichten an sechs Tagen die Woche, körperliche Schwerstarbeit unter ständigem physischen und psychischen Druck sowie Behausungen, die Erholung und Regeneration nicht zulassen, sondern die Gesundheit zusätzlich gefährden – solche Arbeits- und Lebensbedingungen liefern die Betroffenen und ihre Angehörigen wehrlos einer hochansteckenden Krankheit aus“, warnte Peter Kossen, der sich für die Rechte der Arbeiter*innen einsetzt zu Beginn der Corona-Krise.
Wie der konkrete Gesundheitsschutz der prekär beschäftigten Arbeiter*innen aktuell gewährleistet werden soll, ist auch nach der Ankündigung der Arbeitsschutzmaßnahmen des Bundes ungeklärt. Nach wie vor kommt es bei Schlachhöfen und Fleischverarbeitungsunternehmen zu großen Corona-Ausbrüchen. Die Unternehmen weigern sich, konkrete Maßnahmen umzusetzen, vor allem die Anlagen nach bestätigten Corona-Fällen zu schließen. Westfleisch in Dissen ließ die Produktion auch dann weiterlaufen, als es bereits 92 bestätigte Corona-Fälle gab. Wenige Tage später hatten sich 50 weitere Mitarbeiter*innen infiziert, Vion drohte bei Schließungen mit Klagen und auch bei Müller Fleisch oder Wiesenhof wurde die Produktion aufrecht erhalten.
Aktuell mögen die Infektionszahlen in Deutschland zurückgehen, steigen sie wieder oder gibt es gar eine zweite Welle der Epidemie, sind weitere Corona-Ausbrüche zu erwarten. Die Sammelunterkünfte müssen geschlossen, der Transport in beengten Bussen beendet und Anlagen heruntergefahren werden. Diese Forderungen müssen auch weiterhin in der Öffentlichkeit stark gemacht werden.
Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund ein Maßnahmenpaket unter dem Titel „Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ vorgestellt. In den kommenden Monaten sollen zum Teil weiterreichende Maßnahmen wie ein Verbot der Anstellung von Arbeiter*innen über Werkverträge in größeren Schlacht- und Fleischbetrieben umgesetzt werden. Wie sich die Umsetzung gestaltet ist allerdings offen, da es sich bei dem 10-Punkte-Plan des Bundesarbeitsministerium größtenteils um Absichtserklärungen handelt.
Wir geben einen Überblick:
1. Stärkere Kontrollen: Die Durchsetzung des Arbeits-, Infektions- und Gesundheitsschutzes soll verstärkt werden. Arbeitsschutzverwaltungen, Zoll, Gesundheitsämter und Berufsgenossenschaften sollen hierfür stärker zusammenarbeiten und die „Überwachungsquote“ deutlich erhöht werden.
2. Verantwortung für Unterbringung und Infektionsschutz: Die Bundesregierung plant, Unternehmen beim Infektionsschutz am Arbeitsplatz und in Gemeinschaftsunterkünften stärker in die Verantwortung zu nehmen und will hierfür verbindliche Verpflichtungen erarbeiten.
3. Einschränkung von Werkverträgen: Ab kommenden Jahr sollen Unternehmen, deren Kerngeschäft das Schlachten und die Fleischverarbeitung ist, Arbeitnehmer*innen nicht mehr über Werkverträge und Arbeitnehmerüberlassungen anstellen. Es ist die mit Abstand weitreichendste Maßnahme, wobei handwerkliche Betriebe wie Schlachtereien oder Metzgereien vorerst ausgenommen werden sollen.
4. Kontrollen von Wohnunterkünften: Unternehmen, die Gemeinschaftsunterkünfte für Arbeiter*innen stellen, sollen diese den Behörden melden müssen, damit die Wohnbedingungen kontrolliert werden können.
5. Beratung für ausländische Beschäftigte: Die Bundesregierung plant das vom Deutschen Gewerkschaftbund (DGB) getragene Projekt ‚Faire Mobilität‘ und deren Beratungsangebote in verschiedenen Sprachen finanziell stärker zu unterstützen.
6. Digitale Arbeitszeiterfassung: Die Dokumentation der Arbeitszeit der Beschäftigten soll digitalisiert werden, um die gängige Überschreitung von Arbeitsschichten einzuschränken.
7. Höhere Bußgelder: Bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz sollen künftig Bußgelder in Höhe von 30.000 statt bisher 15.000 Euro fällig sein.
8. Durchsetzung des Versicherungsschutzes: Die Verwaltungen sollen künftig prüfen, ob Unfall- und Gesundheitsschutzversicherungen für alle Angestellten vorliegen.
9. EU-weiter Informationsaustausch: Im Falle von Corona-Infektionen ausländischer Beschäftigter soll die Bundesregierung die betreffenden Herkunftsländer informieren.
10. Studie zu Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie: Um die Kontrolle von Arbeits- und Arbeitsschutzrechten sowie Fleisch-, Hygiene- und Tierschutzvorschriften zu verbessern, wollen das Arbeits- und Sozialministerium gemeinsam mit dem Landwirtschaftsministerium eine Studie auflegen.
Ob die Maßnahmen tatsächlich zur Durchsetzung eines stärkeren Arbeits-, Gesundheits- und Infektionsschutzes beitragen ist allerdings ungewiss. Es ist gegenwärtig offen, ob sich alle Maßnahmen rechtlich verbindlich umsetzen lassen. Es ist zu erwarten, dass Schlacht- und Fleischkonzerne gegen diese Maßnahmen klagen werden und sich rechtliche Graubereiche zu Nutze machen, um Regelungen und Vorgaben zu umgehen. Und es ist alles andere als ausgeschlossen, dass die Regierung auf Druck der Industrielobby im weiteren Prozess Maßnahmen nicht wieder zurück nimmt. Wir bleiben am Ball!